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Wie Jana zum Tragen kam

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e das Tragen für uns zur Philosophie wurde, ist eine längere Geschichte. Bevor wir unseren Sohn bekamen, kannten wir nur den „guten alten Kinderwagen“. Von Tragetüchern wussten wir überhaupt nichts. Eine Freundin erzählte mir, dass sie ihren Sohn lange und oft in einem Tragesack getragen habe und dass er dort oft geschlafen habe, teils auch nach dem Ablegen mit dem Sack. – Sie hätte mir genauso gut etwas von der chemischen Zusammensetzung des Gesteins auf dem Mars erzählen können, der Effekt war der gleiche: Ich kapierte nichts und konnte es mir weder vorstellen, noch konnte ich es nachvollziehen. Außerdem hatte ich keine richtigen Ambitionen, mich in meiner Kinderlosigkeit mit derart intensiven Themen zu beschäftigen.
Es kam also überhaupt nicht an bei mir.

Zwei Tage nachdem wir unseren Sohn nach Hause geholt hatten, rückte meine Freundin mit einem Tragetuch an. Es hatte eine schöne Farbe und war ellenlang, aber mehr empfand ich bei dem Anblick noch nicht. Sie meinte, es wäre doch schön für uns beide, wenn ich unseren Sohn in diesem Tuch tragen würde. Es war schon eine komische Vorstellung für mich, da ich es ja überhaupt nicht kannte. Sie band mir die Kreuztrage, und wir packten meinen Sohn kurz da rein. Danach musste ich das alles nochmal ohne Hilfe probieren. Es funktionierte ganz gut, aber ich band dann Baby und Tuch schnell wieder ab, weil es ein ungewohntes und weltfremdes Gefühl für mich war. Nun sollte ich das die folgenden Tage immer mal selbst probieren, um mich daran zu gewöhnen.

Das Tuch lag da, und immer wieder schaute ich es an, aber ich konnte mich nicht richtig dazu durchringen. Bis auf ein einziges Mal an einem Samstag. Wir wollten ein kleines Stück spazieren gehen, und mir war es nicht so unangenehm, weil mein Mann mit dabei war. Das Binden klappte gut, genauso das Einpacken unseres Sohnes. Beim Spazieren schlief er selig in diesem Tuch, aber durch den Schlafmangel hatte ich keine Kraft, und mir war ständig, als würde ich vornüber kippen. Den Erfolg, dass unser Sohn darin wunderbar schlief, konnte ich gar nicht richtig genießen. Ich hatte irgendeine unerklärliche Barriere im Kopf. Zuhause legte ich das Tuch wieder beiseite – zwar immer griffbereit, aber ich nutzte es nicht.

Wir hatten mittlerweile auch einen Tragesack gekauft. Darin transportierten wir unseren Sohn ab und zu mal beim Einkaufen, weil es so praktisch war. Nur war der Sack mir sehr unangenehm, weil die Träger so auf die Nackenmuskulatur drückten, dass ich Schmerzen bekam. Es war also die Ausnahme, dass ich ihn trug. Und warum Tragen laut meiner Freundin eine Philosophie sein sollte, verstand ich noch nicht. Ich sah es nur von der praktischen Seite. – Aber das sollte sich bald ändern. Mein Sohn hatte da nämlich ganz eigene Ansichten!

Mit etwa zwei Wochen fing er an, tagsüber und abends ganz schön zu schreien. Wir wussten überhaupt nicht, wie uns geschah. Ich las etwas über Dreimonatskoliken und Reizüberflutung bei manchen Säuglingen. Die ersten Wochen lief ich mir tagsüber stundenlang mit dem (zum Glück geborgten) Kinderwagen die Füße wund. Ich durfte nirgends, zum Beispiel an der roten Ampel, an der Kasse im Supermarkt oder einfach zum Verschnaufen, stehen bleiben. Sofort fing unser Sohn an zu schreien. Und abends zuhause fielen uns bald die Arme vom vielen Herumtragen ab, bis er endlich seine Spannungen abgebaut hatte und eingeschlafen war. Wir mussten unsere Aktivitäten stark reduzieren, um unseren Sohn nicht zu überreizen und überfordern. Das war sehr anstrengend für alle Beteiligten.

Aber dann ereignete sich etwas ganz Entscheidendes. Ich musste auf der Arbeit noch einiges klären und wollte unseren Sohn da nicht mit hinnehmen, weil das zu stressig gewesen wäre. Also gab ich ihn für diese Zeit zu meiner Freundin. Er war gerade knapp 10 Wochen alt. Als ich ihn wieder abholte, sagte sie mir, dass sie ihn in der Zeit im Tragetuch hatte und er dort selig geschlafen habe. Das kratzte dann schon etwas an mir. Ich dachte mir, dass ich das doch eigentlich auch schaffen könnte. Aber ich hatte das geborgte Tragetuch genau an diesem Tag zurückgeben müssen.

Zuhause dann kümmerte ich mich sofort, so dass ich innerhalb von zwei Tagen ein wunderschönes Tragetuch aus erster Hand kaufen konnte. Ich band die Kreuztrage, steckte unseren Sohn rein, und es klappte wunderbar. Inzwischen konnte er den Kopf auch gut halten, was uns beiden Sicherheit gab. Ich übte drei Tage zuhause, und dann stürzte ich mich mit Tuch und Baby ins Leben. Ich habe von da an nur noch das Tuch und mein Mann den Tragesack benutzt. Den geborgten Kinderwagen brachten wir zurück. Ich wusste, wir würden ihn nie wieder brauchen. Unser Sohn schlummerte so gern im Tragetuch und wurde auch von Woche zu Woche etwas ruhiger. Ich hatte die Arme frei, um etwas erledigen zu können und er beruhigte sich immer sofort, wenn ich ihn ins Tuch nahm. Auch konnte ich endlich unterwegs Pausen einlegen, ohne dass unser Sohn gleich erwachte oder protestierte. Und es war so wunderschön und kuschelig. Ich war so froh, dass ich es doch noch geschafft hatte.

Das Tragetuch ist für mich die größte Wunderwaffe gegen Koliken. Und es trägt wesentlich zu einer schönen Bindung zum Kind bei. Das habe ich sehr deutlich zu spüren bekommen, denn unser Verhältnis wurde immer inniger. Und auch, wenn ich mal nicht so gut drauf war, konnte ich diese Situationen mit Hilfe des Tragetuches entschärfen. Es half mir auch sehr, meinen Sohn größtenteils vor fremden, unmöglich an ihm rumgrabschen wollenden Personen zu schützen. Zum Glück konnte ich diese Erfahrung noch rechtzeitig machen!

 

© 2002 Jana

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