über das Leben mit Kindern nach dem Continuum Concept
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Einige theoretische Überlegungen zum Continuum Concept
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Continuum Concept und elitäre Abkapselung der "Erleuchteten" von den "tumben Normalos" ist aus meiner persönlichen Sicht ein Widerspruch in sich. Mit ihrem CC (Konzept, nicht Theorie nennt sie es bescheiden) gehört Jean Liedloff eher in die anthropologische und philosophische Richtung, die sich seit Menschengedenken Gedanken über "die Natur des Menschen" macht, als zu den Verfassern konkreter Erziehungsratgeber.
Ist der Mensch des Menschen Wolf? Ein Engel? Ein Teufel? Ein Tier? Kann er alles zugleich sein und noch mehr?
Und so hat jeder Mensch sein eigenes "Menschenbild", welches sich durch Interaktion mit anderen Menschen verfestigen oder ändern kann und zunächst durch seine primären Erfahrungen vor und in den ersten Jahren nach der Geburt geprägt wurde.
Hier setzt sie moderne Psychologie und Erziehungswissenschaft ein, die sagt, dass "die Natur des Menschen" durch eben diese primären Erfahrungen maßgeblich geprägt werde und abstrakt, ohne Primärerfahrungen gar nicht denkbar sei. "Tabula rasa", eine leere Tafel, ein unbeschriebenes Blatt sei das neugeborene Menschenkind, hilflos den prägenden Erfahrungen seiner Betreuer und Erzieher ausgesetzt, von deren Kompetenz und Integrität es abhänge, dem Kind mittels einer "guten oder schlechten Erziehung" einen guten oder schlechten
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Start ins Leben
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Charakter
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weiteren Lebensweg
zu verpassen. "Pädagogischer Optimismus" nennt sich diese Sichtweise.
Dagegen gab es immer Stimmen (heute verstärkt durch die Genetik), die sagten, ein Großteil der Natur des Menschen sei angeboren. Temperament, Begabungen, Defizite seien eben von Kind zu Kind verschieden, und der "pädagogische Optimismus" sei eine maßlose Selbstüberschätzung der Gestaltungsmöglichkeiten der Eltern und Erzieher. "Determinismus" nennt sich diese Richtung.
Vermutlich, weil ihr dieser Gelehrtenstreit zwischen "Optimisten" und "Deterministen" gar nicht bekannt war, war Jean Liedloff als fachfremde Beobachterin offen, einen dritten Weg im Umgang der erwachsenen Dschungelbewohner mit ihrem Nachwuchs und ihresgleichen zu erkennen. Was sie beobachtend und wertend formulierte und mit "Continuum Concept" bezeichnete, wird in der Physik und Technik "ein selbstregulierender Rückkopplungsprozess" genannt. Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren solche Begriffe aus der Systemtheorie der technischen Kybernetik in den Geisteswissenschaften entweder unbekannt oder bäh-bäh. Dass Systemanalytiker sowohl bei der Planung von Computernetzwerken als auch bei der Optimierung von Verkehrsverbünden, der Darstellung komplexer Ökosysteme oder in der psychologischen Fachrichtung der Familientherapie gleichermaßen professionell tätig werden würden (wie es heute üblich ist), lag noch in weiter Ferne. Jean Liedloff begleitete die Dschungelexpeditionen zu den Yequana als Berichterstatterin und Fotografin, keinesfalls als Ethnologin oder Anthropologin. Ihre persönlichen Motive, in den Dschungel zu reisen, waren Neugierde und Abenteuerlust.
Die wissenschaftstheoretischen Grenzgänge, die sie mit ihrer frisch-forschen Beschreibung des von ihr bewusst Wahrgenommenen machte, waren Jean Liedloff anfangs vermutlich weder bekannt noch bewusst. Das ermöglichte ihren unverstellten Blick auf das, was sie wirklich sah. Das ist kein neues Phänomen in den Fachwissenschaften. Oft begründen wache, aufmerksame, anderweitig geschulte, fachfremde Beobachter durch ihre scharfsinnigen Analysen ihrer Beobachtungen Paradigmenwechsel, weil ihnen die Betriebsblindheit und die ideologischen Scheuklappen der Fachleute fehlen. Etliche Begründer der biologischen Landwirtschaft waren Mediziner. Ein führender Theoretiker im biologischen Gartenbau Architekt. Warum sollte also eine (scharf beobachtende) Fotografin und Journalistin nicht ganz unbefangen den fruchtlosen "Optimismus" und "Determinismus" Zwiespalt ignorieren und damit Neuland betreten? Einige Fachwissenschaftler der theoretischen Pädagogik und Entwicklungspsychologie haben Jean Liedloff bis heute nicht verziehen, dass sie ohne einschlägig dokumentiertes Fachwissen (Diplome, Examen, Titel) eine neue Theorie aufstellte, benannte (Continuum Concept) und nicht empirisch (wie in der Naturwissenschaft üblich) belegte. Dass spätere Untersuchungen anerkannter Wissenschaftler empirische Belege nachlieferten, hat den "Geburtsmakel" des CC aus Sicht vieler älterer Fachwissenschaftler nicht beseitigt. Diesen Ruf der "Unwissenschaftlichkeit" teilt Jean Liedloff übrigens mit der ebenfalls sehr populären Alice Miller.
Liedloff beschrieb, dass auf der Grundlage angeborener Erwartungen, mit denen jedes Baby geboren wird, die älteren Sippenmitglieder mühelos die Bedürfnisse der jüngeren befriedigen konnten, dies auch bereitwillig jederzeit taten und dies offenbar, als allgemeingültige Grundlage des Umgangs miteinander, eine außerordentlich beruhigende, entspannende und friedensstiftende Auswirkung auf alle Beteiligten hatte.
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Keiner erwartete von seinen Mitmenschen mehr, als diese zu geben bereit und in der Lage waren.
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Jeder konnte vom ersten Atemzug an die vollkommene Gewissheit genießen, dazu zu gehören und willkommen zu sein.
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Jedem (auch Jean Liedloff) wurde dieses Gefühl großzügig und ungefragt vermittelt, weil die Yequana selbstverständlich voraussetzten, dass auch sie das angeborene menschliche Bedürfnis hatte, sich willkommen zu fühlen.
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Lebendgeborene Kinder, die weder verhungerten noch verunglückten und zu nützlichen Glieder ihrer Gemeinschaft heranwuchsen, waren aus Sicht der Yequana (wie jedes fühlenden Lebewesens) weder eine Last noch ein Problem, sondern ein Geschenk, das sich allgemeiner Wertschätzung erfreute.
So unkompliziert und einfach ist das Zusammenleben fast überall, wo Menschen (und höhere Tiere) ihre angeborenen Fähigkeiten angemessen einsetzen und auf Bedürfnisse angemessen reagieren können. Das dokumentierte Jean Liedloff später auch auf Bali.
Es ist übrigens auch der allerletzte Schrei auf modernen Führungkräfteseminaren:
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Mitarbeiter, Vorgesetzte und Kunden weder über- noch unterfordern, Kompetenzen anerkennen, Defizite nicht überbewerten.
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Vertrauen vorschießen – es ist in der Regel berechtigt.
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Zusammengehörigkeitsgefühle nutzen und fördern.
Diese angeborenen Instinkte, Fähigkeiten und Erwartungen haben wir in Deutschland und den anderen Industrienationen ebenso wie alle anderen Menschen. Das ist gar nichts Besonderes, denn alle Säugetiere (sowie die meisten Vögel) sind weltweit in ähnlicher Form "gestrickt". Darwins (für die europäisch-christlichen "Ebenbilder Gottes" kränkende) Theorie, dass auch der Homo sapiens sapiens nur ein nackter Affe sei, dessen Hirnrinde überproportional gewuchert ist, ist wahrer als die Geisteswissenschaftler wahrhaben wollten.
Die alte Vermutung, "Der Mensch sei des Menschen Wolf", wurde mit Hilfe moderner Verhaltenswissenschaften zu Rehabilitation der Wölfe vollständig widerlegt, denn nur wenige menschliche Gemeinschaften sind in der Lage, wesentliche soziale Anliegen wie Nahrungsbeschaffung, Fortpflanzung und Betreuung des Nachwuchses so effizient und kooperativ wie ein Wolfrudel zu lösen. Von den diesbezüglichen Fähigkeiten in Elefantenherden und Affenclans jetzt ganz zu schweigen.
Da stehen wir nun, hin- und hergerissen zwischen dem "pädagogischen Optimismus", der uns weismachen will, dass unsere Erziehung erst aus dem Säugling einen Menschen machen wird (und jeder Fehler in den ersten Lebensjahren sich furchtbar rächen wird) und der sozialen Tatsache, dass heutzutage hierzulande nur wenige Menschen bereit sind, diese furchtbare Verantwortung mit uns Müttern zu teilen. Ob unser Kind später stark, mutig, zufrieden und erfolgreich seinen Lebensweg machen wird oder als neurotischer, unzufriedener Versager sich und seinen Eltern täglich neue Probleme schafft, versuchen wir in maßloser Selbstüberschätzung durch tägliche Einzelentscheidungen zum Wohle unserer Kinder zu entscheiden – ständig niedergedrückt von der Sorge, was aus dem Kind wird, wenn wir "vom rechten Weg" abirren.
Ich habe gute Nachrichten für Euch:
Euer persönlicher Einfluss ist geringer, als man Euch weismachen will. Mütter sind keine allmächtigen Schicksalsgöttinnen. Jedes Kind wird mit der Erwartung geboren, dass man es wachsen und gedeihen läßt. Muttermilch ist das optimale Lebensmittel für eine artgerechte Haltung von Säugetierjungen in den ersten Monaten und (bei einigen Arten ggf.) Jahren. Jede Alternative dazu ist nicht so perfekt wie das natürliche Vorbild (aber meist auch nicht schädlich, wenn sonst das Meiste okay ist. Gut ist gut genug – es muss nicht immer perfekt sein).
Jeder Mensch (auch Mütter!!!) möchte irgendwo "dazugehören" und "willkommen sein". In den ersten Tagen und Wochen spüren Babies dies nur über die Haut und das Gehör. Körperkontakt und menschliche Stimmen, die freundlich und ruhig die Gewissheit vermitteln "Hier sorgt man für mich", sind für Neugeborene aller Nationen und Rassen eine wesentliche Lebensgrundlage. Wer jungen Müttern etwas anderes einreden will, zeigt damit nur, dass er keine Ahnung von artgerechter Haltung junger Herden- oder Rudeltiere hat.
Absolut lebensnotwendig für junge Menschlein und Tiere sind ältere Artgenossen, die wissen, wie das Leben funktioniert, und diese Kenntnisse täglich sinnvoll anwenden – ob man nun miteinander Ameisen aus dem Bau angelt und von einem Stock ablutscht, einander laust und sich vor Löwen versteckt oder ob man zusammen im Supermarkt einkauft, ins Freibad geht und sich gegenseitig eincremt und achtsam die Strasse überquert, spielt für das Kind solange keine Rolle, wie der ältere Begleiter die Gewissheit ausstrahlt, dass es so gemacht wird, weil es genauso gut und richtig und wichtig ist. Nach diesem Schema lernen Jungtiere, was sie zum Überleben brauchen. Ältere Exemplare auch noch. Schaut Euch an, was Euch gefällt und tut einfach, was sich gut anfühlt – wahrscheinlich ist es richtig. Sonst schadet es auch nicht, solange ihr selbst ganz sicher seid, dass es richtig ist.
Das System hat den Vorteil, weltweit und seit Jahrmillionen, zu funktionieren. Warum sollten wir es anders machen? Unsere Kinder wissen, was sie von uns brauchen, und zeigen es uns unmissverständlich. Sie weinen nicht, um uns zu ärgern. Sie lachen, wachsen, schlafen, essen, trinken, spielen nicht, um uns eine Freude zu machen, sondern weil es zum Leben dazu gehört und richtig und wichtig für sie ist. Wenn Ihr diesbezüglich Zweifel und Fragen habt, wendet Euch an die Hauskatze (Hündin, Stute ...) Eures Vertrauens und vergesst die Theorie. Keine Haushündin zweifelt daran, dass ihre Jungen echte Hunde werden und dass sie eine gute Hundemutter ist – egal wie degeneriert, neurotisch und überzüchtet das Vieh sonst sein mag. Alles, was wir brauchen, um mit unseren Kindern gut klarzukommen, steckt schon seit Jahrmillionen in uns – wir können es einfach 'rauslassen – egal wo, egal wann. Dafür müssen wir weder zurück in den Dschungel noch auf die Bäume.
In meiner Lebenspraxis setze ich unsere CC-gemäßen Bedürfnisse so um, dass ich die Kontaktfreude meiner Tochter für eigene Kontakte mitnutze, Miesepetern, die mir die Freude an meinem Kind verderben wollen, und bei denen mein gesundes, fröhliches Kind nicht willkommen ist, seit ihrer Geburt konsequent aus dem Weg gehe und so oft wie möglich die freie Natur aufsuche und mich dort bewege. Das verlangt mein angeborenes Continuum in mir. Wir vertrauen meinem Kind und uns selbst (wem sonst???) und hoffen, dass alles gut geht – auch Dinge, die wir nicht direkt beeinflussen können. Als Rückmeldung nehmen wir das Gedeihen meiner Tochter:
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Schläft sie ruhig und ohne böse Träume?
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Isst und trinkt sie mit Genuss und ohne Hast?
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Wächst sie?
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Sind ihre Haut, Haare, Zähne und Nägel in Ordnung?
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Hat sie für sie befriedigende und angenehme Beziehungen und Kontakte zu anderen Menschen?
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Macht sie einen zufriedenen und gesunden Gesamteindruck?
Theorie ist für solche ständigen Beobachtungen wenig nötig – wenn es diesbezüglich Abweichungen von dem gibt, was wir als gesund und richtig empfinden, haken wir nach. Das klappt nicht immer perfekt (siehe Milchallergie), aber es klappt aus unserer Sicht gut genug. Wenn wir uns mehr Sorgen machten, würden wir damit das Kind nicht stärken, sondern schwächen. Nitrofen im Putenschinken und Salmonellen im Frühstücksei besprechen wir mit ihr ohne Panik in der Stimme, falls sie danach fragen sollte (bisher kein Interesse). Gewalt auf dem Schulhof tragen wir als Problem, für dessen Lösung die Lehrer verantwortlich sind, der Schulleitung und ggf. höheren Stellen vor – und "engagieren" privat kräftig gebaute Dritt- und Viertkläßler aus der Nachbarschaft als Bodyguards für unsere Erstkläßlerin. Die Großen sind glücklich, weil wir ihnen zutrauen, ein Problem selbstständig und gewaltfrei zu lösen, und unsere Kleine ist froh, dass sie sich vor anderen (nicht ganz so verantwortungsbewussten) Kindern auf dem Schulhof und Schulweg nicht mehr fürchten muss. Jeder Tag bringt neues Glück und neue Herausforderungen. Ich glaube daran, dass wir alle von der Natur das Rüstzeug mitbekommen haben, dieses Glück anzunehmen und die Herausforderungen zu meistern. Jean Liedloff glaubt dies auch und hat als CC einige Wege dazu beschrieben. Andere finden wir in uns und überall dort, wo Menschen gut miteinander auskommen – ohne ethnische, Alters- oder Kulturgrenzen.
© 2002 Hilde